Die Möglichkeit, sich frei zu bekennen…

Die Grafikerin und Buchillustratorin Inge Jastram

Inge Jastram kann auf fünf Schaffensjahrzente in ihrer Kunst zurückblicken, in denen sie nahezu zu einer Institution der sich entwickelnden Kunstszene in der See- und Hafenstadt Rostock und entlang der ostdeutschen Ostseeküste wurde. Hierhin war sie, die gebürtige Thüringerin aus Naumburg, 1957 ihren Mann, dem Bildhauer Jo Jastram, nach ihrem Studium an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee, in dessen Vaterstadt gefolgt.

Hier gründete sie in jenen Jahren eines allgemeinen „künstlerischen Aufbauwerkes“ Familie. Heim und Atelier, das bald zu einer Gärzelle künstlerischer Entwicklungen wurde, zum Künstlertreff und Diskussionsort. Später, im kleindörflichen Kneese, wohin sie zu Beginn der siebziger Jahre in ein ehemaliges Bauerngehöft zogen, ist es bis heute nicht anders gewesen. In Rostock haben beide vielfältige künstlerische Spuren hinterlassen, denen man fast auf Schritt und Tritt begegnen kann. Im Falle von Inge Jastram z.B. nördlich der langen Straße im Stadtzentrum im Haus des Hirnstorff-Verlages, für den sie, nach ersten Jahren erfolgreicher Arbeit für renommierte Berliner und Mitteldeutsche Verlage, dann ebenfalls als Buchillustratorin tätig war. Und wenn die

Nach-Wende-Zeitläufte es günstiger damit gemeint  hätten, begegnete man ihren architekturgebundenen dekorativen Wandgestaltungen heute noch in etlichen Neubaugebieten zwischen Rostock und Warnemünde. Ihrer Rolle als Haushaltsvorstand, Hausfrau und Mutter hat sie sich dabei nie entzogen. Das hat Inge Jastram in diesen Jahrzehnten,  bei zwangsläufigen Einschränkungen, vom „Kunstmachen“ nicht abhalten können.

Ihr eigentliches Feld aber war und blieb die Arbeit mit Zeichenfeder und Radiernadel. Das Diplom als Buchgrafikerin hatte sie einst (1957) bei jenem legendären Übervater der ostdeutschen Buchillustratoren Werner Klemke gemacht, der  ein exzellenter Techniker war und die grafische und zeichnerische Formenwelt der französischen und deutschen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Anregungen verarbeitete und vermittelte. Es waren Jahre, in denen in Berlin neben Klemke Zeichner und Grafiker wie Arno Mohr, Herbert Sandberg und Herbert Tucholski ein Zentrum hoher Zeichen- und Illustrationskunst  begründet und die junge Grafikerin nicht unwesentlich beeinflusst haben.

Dass Inge Jastram ihr künstlerisches Handwerk nicht nur fleißig gelernt, sondern zu einer ganz eigenen Ausdruckskraft und originären Formenkanon entwickelt hatte, wurde ihr spätestens 1983 bestätigt, als die im Berliner Eulenspiegel-Verlag erschienenen „Hetärengespräche“ des Lukian zu einem der „Schönsten Bücher des Jahres“ gewählt wurden. Bei Hirnstorff illustrierte sie, die einen feinen thüringischen Zungenschlag bis heute nicht verleugnet, dann sogar plattdeutsche  Bücher, die Titel wie „Nicht leigen“ oder „Zuckerkouken un Kööm“ hatten. Spätestens da war sie auch mental in Mecklenburg angekommen.

Die stürmischen Zeiten der endachtziger und frühen neunziger Jahre, die gesellschaftliche Verhältnisse und künstlerische Existenzbedingungen in Frage und auf den Kopf stellten, sind eine wichtige Zäsur in ihrer künstlerischen Entwicklung. Es gäbe diesen bedeutenden und wahrscheinlich sogar wichtigsten Werkabschnitt der letzten zwei Jahrzehnte vielleicht gar nicht ohne jene gesellschaftliche Brüche und Umbrüche. Aus jenem „freien Fall“ ihrer Gefühle, der plötzlichen Orientierungslosigkeit, der allgemeinen Irritationen und der Suche nach neuen Lebens- und Schaffenskoordinaten rettete Inge Jastram sich mit einer Art Flucht nach vorn, einem Neubeginn in der Rückbesinnung auf ihre künstlerischen Wurzeln; ihre zeichnerische Begabung und die grafische Ausbildung aus jener Berliner Studienzeit. Nie war ihre Kunst vorher so persönlich und intim auf eigene Befindlichkeiten gerichtet bzw. davon inspiriert. Wer Inge Jastram kennt, schätzt ihre streitbare und empfindsame Natur, die sich einen mädchenhaften Charme bewahrt hat und doch von einer bestimmten, manchmal schmerzlichen Direktheit sein kann. Genau so sind ihre Zeichnungen und Grafiken: empfindsam und direkt. 

Eines ihrer großen Themen in diesem künstlerischen und individuell persönlichen Selbstfindungsprozess ist die Situation der Frau, die sich in einer auffälligen Dominanz weiblicher Portraits und Figuren, von Szenen aus dem Leben von Frauen, und Mädchen niederschlägt, die mit kritisch anteilnehmendem Blick für Motive und Sujets gesehen und interpretiert werden. Es sind Geschichten von unerfüllter Sehnsucht und Einsamkeit, Liebe und Gewalt, Glück und Traurigkeit voller Fragen nach Selbstwert und Selbstbestimmung. Der Radierung der beeindruckenden „Jungen Jüdin“ von 1992 folgten im Laufe der Jahre eine Reihe intensiver Frauenfiguren.

Die grafische Technik der Radierung, vor allem der Kaltnadelradierung, scheint für die künstlerische Mentalität Inge Jastrams wie geschaffen: sie ist knapp und direkt, kann eher aggressiv als lyrisch und eher verletzend als harmonisierend sein. Die Grafikerin kann dann schon mal „ihre Wut in die Platte kratzen“, wie sie es selbst beschrieben hat. Aber es gibt auch die Feinheiten der Aquatinta-Radierung mit ihren differenzierten Grauwerten und Schattierungen. Hin und wieder werden grafische Blätter farbig akzentuiert. Die Entdeckung neuer technischer Möglichkeiten, der Mut zu anspruchsvollen Blattformaten und einer Erweiterung des grafischen Ausdrucksvermögens verdankt sie sie auch der anregenden und ermutigenden Zusammenarbeit mit befreundeten Druckern. Bei aller technischen Brillanz, die in dieser Radierkunst liegt, steht sie doch stets in der dienenden Funktion zum Gegenstand des Werkes, seinem Thema, dem Motiv und dem Sujet und erschöpft sich nicht als Selbstzweck.

Inge Jastram ist wohl auch eine emotionale Künstlerin, die mit ihren Modellen liebt, leidet, trauert und hofft. Es ist eine Betroffenheit, man kann sie vielleicht sogar feministisch nennen, aus eigener Lebenserfahrung und historischem Interesse an der Situation von Frauen gestern und heute. Ihre Figuren strahlen eine gewisse Zeitlosigkeit aus, die Geschöpfe der Vergangenheit und aktueller Gegenwart in einem sein können. Aus der Kenntnis der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts entdeckt man Linien und Schraffuren, Detailbehandlung und Figurengestaltung, die an große Vorbilder erinnern, an Otto Dix und George Grosz und die Radierkunst und den Verismus jener Zeit. In den Illustrationen zu Gedichten von Klaus Mann, aber auch zu Texten von Wolfgang Borchert oder Erich Kästner geht solche formale Verwandtschaft eine authentische Symbiose ein. Inzwischen gibt es schon wieder Verleger wie Faber & Faber in Leipzig, mit dem Sie erfolgreich zusammen arbeitet, die das zu schätzen wissen und die Grafikerin und zu illustrativen Buchprojekten ermutigen.

Seit einigen Jahren bevölkern Clowns und Zirkusakrobaten die grafischen Blätter Inge Jastrams (im Bildhaueratelier Jo’s gleich nebenan entstehen sie parallel dazu in Gips und Bronze). Es gibt sie als mitunter großformatige Zeichnungen in einer Mischtechnik aus Kohle, farbige Kreiden, in Pastell, Bleistift und Aquarell und eben radiert. Die Künstlerin taucht selbst ein und entführt uns als Betrachter in eine phantastische Welt der fragilschwerelosen Körperlichkeit der Artisten und der melancholischen Weisheit der Clowns und leistet sich dabei sogar manch sentimentalische Attitüde, die Kindheitsträume und Sehnsüchte offenbaren.

Es kann nicht verwundern, dass das Leben auf dem Lande (nun schon seit über 25 Jahren) „hinter den sieben Bergen“, bei Hase, Reh und Fuchs und inmitten von Kartoffel-, Raps- und Maisfeldern ihr die Landschaft als Motiv quasi „vor die Flinte“ führte. Es ist eine mecklenburgisch-pommersche Landschaft mit sanften Hügeln und zumeist winterlich-grafischen Strukturen von Bäumen und Sträuchern mit einer feinen Melancholie beobachtet und radiert. Die Landschaft wird wahrlich nicht das letzte Kapitel in diesem grafischen Werk sein. Inge Jastram sucht auch im achten Lebensjahrzehnt künstlerische Entdeckungen und Herausforderungen.

Klaus Tiedemann

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